Lessons Learned aus #breitscheidplatz

Das Datum hätte mit der zeitgleichen Wahl des Electoral College in den USA vermutlich nicht bedeutender liegen können. Am 19. Dezember 2016 ereigneten sich an einem Berliner Weihnachtsmarkt schreckliche Szenen, als ein Lastwagen in selbigen hineinraste. In diesem Blogeintrag möchte ich gar nicht so sehr auf die Meldungen rund um die schrecklichen Ereignisse auf dem Berliner Weihnachtsmarkt eingehen. Viel mehr möchte ich hier teilen, was ich rund um die Berichterstattung rund um diese Ereignisse gelernt habe, wie ich damit umgegangen bin und wo meiner Meinung das Problem in der heutigen Verwendung von Medien liegt.

#breitscheidplatz

An diesem Abend befand ich mich irgendwo in Deutschland mal wieder in einem Hotelzimmer, als nach und nach Meldungen über einen LKW, der in einen Weihnachtsmarkt gerast war, auf meinem Mobiltelefon eintrudelten. Schnell wurde ich darauf aufmerksam, dass die Berliner Polizei über ihre Aktivitäten vor Ort Bericht erstatte auf Twitter. Aus Neugierde schaute ich, was die Berliner Polizei aktuell von dem Einsatzort zu berichten hatte und wurde so schnell auf den Twitter-Hashtag #breitschadplatz aufmerksam.

Dort traf ich vor allem auf jede Menge Anteilnahme, nicht nur aus Deutschland, sondern aus verschiedenen Ländern, u.a. Spanien, Frankreich und UK. Doch neben den Anteilnahmen war ich erschüttert über das Ausmaß an Spekulationen und vorschnellen Meinungen, die einige Zeitgenosse dort zu teilen hatten, die ich im weiteren Verlauf dieses Blogeintrags gerne mit Lügenfresse bezeichnen möchte.

Warum Lügenfresse? Ein Vorwurf, über den ich immer wieder stolpere, ist, dass unsere Presseagenturen unseriöse Berichterstattungen tätigen, indem sie die Öffentlichkeit mit News-Beiträgen basierend auf der halben Wahrheit konfrontieren und so bewußt die Öffentlichkeit in die Irre führt und von der Wahrheit ablenkt. Ich basiere meine Beobachtungen darauf, was in den ersten drei Stunden auf den sozialen Medien geteilt wurde, als die Berliner Polizei so gut wie keine näheren Erkenntnisse zu den Geschehnissen hatte. Was dort auf den sozialen Netzwerken geteilt wurde, basierte genauso auf Halbwahrheiten und Spekulationen. Aus diesem Grund nenne ich die Leute mit den vorschnellen Meinungen analog zur Lügenpresse der Einfachheit halber Lügenfresse. Nichts von dem, was zu dem Zeitpunkt faktisch klar war, ließ Rückschlüsse auf irgendwelche Hintergründe zu. Die Behörden sprechen in diesem Rahmen auch gerne davon, dass in alle Richtungen ermittelt wird, weder ein Anschlag noch ein Unfall zu dem jeweiligen Zeitpunkt ausgeschlossen werden kann, etc.

Und diese Aussagen haben einen Grund. Unabhängig davon, was der weitere Ermittlungsverlauf ergeben wird, konfrontieren die Behörden die Bevölkerung aus gutem Grund nicht mit Halbwahrheiten. Zum einen wollen sie seriöse Arbeit leisten – und seriös bedeutet in diesem Kontext, dass man erstmal den Sachverhalt festhält und danach auf Motivationsgründe rückschließt. Man konfrontiert also bewußt die Bevölkerung mit der eigenen Unsicherheit, was zu derart schwammigen Aussagen führt – man weiß es ja noch nicht. Das verstehe ich unter seriöser Polizeiarbeit und das baut bei mir Vertrauen dazu auf, dass die Beamten dort vor Ort ihre mühsame Arbeit erledigen wollen – ohne Vorbehalte und ohne voreingenommen zu sein. Bei mir als Mitbürger baut dieses Vorgehen Vertrauen auf, auch wenn die Situation unbefriedigend ist und ich aus eigener Neugierde so schnell wie möglich alles zu den Hintergründen erfahren möchte. Aber die Rückschlüsse lassen sich nun mal nicht beliebig schnell herstellen und deshalb muss ich damit leben, dass ich für den Moment erstmal nicht mehr erfahren kann als bis dato gesichert ist. Genau das kommunizieren die involvierten Beamten allerdings – und das wünsche ich mir auch von einer professionellen Arbeit in diesem Bereich.

Confirmation Bias

Doch was passiert, wenn das nicht geschieht? Bei vielen Zeitgenossen konnte ich herauslesen, dass sie nicht offen waren für Rückschlüsse in unterschiedliche Richtungen, sondern sehr von ihrer Position gefestigt waren und nicht offen für alternative Gründe sind. Das Problem ist nicht neu und lässt sich mit dem Begriff „Confirmation Bias“ am besten umreissen.

Was ist ein Confirmation Bias? Bei einem Confirmation Bias handelt es sich darum, dass man von seiner voreingenommenen Meinung nicht abrücken möchte und aus dem Grund nur solche Quellen mit großer Aufmerksamkeit beachtet, die die eigenen Vorurteile befüttern. Von einem derartigen Confirmation Bias kann sich niemand frei sprechen, ich ebenfalls nicht. Deswegen bin ich froh, wenn ich über weitere Informationen und Feedback von Kollegen immer wieder höre, dass sie Dinge anders sehen als ich. Wenn ich diese Sichtweise annehmen kann, dann gab es bisher immer etwas für mich zu lernen.

In der Forschung tritt ein Confirmation Bias z.B. dann auf, wenn ich ein Experiment durchführe, vorher ein bestimmtes Ergebnis erwarte und sich die Messdaten am Ende irgendwie so hinbiegen lassen, dass meine voreingenommene Meinung erfüllen, also meine Meinung bestätigt wird. Das Ganze ist ein Teufelskreis, ein selbstverstärkender Feedbackzyklus, der dazu führt, dass wir uns immer weiter in unserer Meinung bestätigt sehen – und falls nicht, dann passt irgendwas mit unserem Experiment oder unseren Daten nicht, dann sind das eben Lügendaten und ich führt das Experiment einfach solange noch mal durch, bis meine Meinung bestätigt ist und ich die gewünschten Ergebnisse habe. In der Forschung vermeidet man durch Peer-Revieews von Artikeln und reproduzierten Ergebnissen einen derartigen Confirmation Bias und achtet auch darauf, dass die Ergebnisse innerhalb eines Toleranzrahmens liegen.

Was ist jetzt bei #breitscheidplatz passiert? Nun, relativ schnell gab es von irgendeinem Sender die Meldung, dass es sich um einen Terroranschlag handelt, der LKW entführt wurde, der eigentliche Fahrer ermordet wurde und der Islamische Staat die Verantwortung für die Geschehnisse übernommen hat. Natürlich schaukelten sich schnell die Beiträge darauf ein, dass das alles mit der Flüchtlingskrise zu tun habe, etc. pp. Doch mir geht es hier nicht um das inhaltliche. Vielmehr geht es mir darum, dass genau dieser Teufelskreis des Confirmation Bias hier relativ schnell zugeschlagen hat. „Ich glaube, das war ein Anschlag des IS.“ „Das liegt bestimmt an der Flüchtlingskrise.“ sind zunächst mal vorschnelle Rückschlüsse zu Daten, die nicht vorhanden sind – auch wenn sich das einige Newsseiten gerne so wünschen würden. Die unterliegen nämlich auch einem eigenen Confirmation Bias. Seriöse Seiten versuchen durch intensive Recherchen diesem Confirmation Bias entgegenzuwirken, so ähnlich wie das in der Forschung auch bei Peer-Reviews von Artikeln und reproduzierten Ergebnissen von veröffentlichten Arbeiten passiert.

Wie Newsseiten arbeiten

Vor ca. einem Jahr hat mir dazu eine Teilnehmerin einer meiner Kurse erzählt, wie sie das bei ihrem vorherigen Arbeitgeber gemacht haben. Im Kern gibt es drei authentische Agenturen, die Meldungen veröffentlichen. Sämtliche Newsseiten haben diese Meldungen abonniert und kanalisieren und filtern, was sie davon auf ihrer Seite als Meldung an die Öffentlichkeit geben.

Die Dame erzählte beispielsweise von dem Tod eines Prominenten. Die fleißigen Helfer bei der Seite wußten, es steht eine kritische Operation in einem Krankenhaus an und es ist nicht klar, ob der Promi überleben würde oder nicht. So warteten die Redaktionsmitarbeiter darauf, was die Agenturen veröffentlichen würden. Das Problem in der heutigen Zeit ist, dass Newsseiten im Internet ihre Leserschaft darüber glaube anzuziehen, dass sie Nachrichten möglichst als erste veröffentlichen. Also hatten sie in der Redaktion bereits zwei Meldungen vorbereitet: „Promi ist tot.“ und „Promi hat überlebt.“ Das ist natürlich einerseits makaber, wenn man sich darüber klar wird, dass es hier um Leben oder Tod eines Menschen geht. Auf der anderen Seite bedeutet Schnelligkeit das Leben oder den Tod der Redaktion.

Die Dame beschrieb mir dann, dass sie mit der Heuristik gearbeitet haben, dass eine Meldung von zwei unabhängigen Agenturen bestätigt sein muss, damit sie die veröffentlichen. Also mussten sie „eigentlich“ „nur“ auf die Aktualisierung des Agenturfeeds warten, um zu entscheiden, auf welches Knöpfchen sie jetzt drücken sollen. Leben oder Tod.

Das erscheint mir erstmal ein fundierteres Vorgehen zu sein, als eine Meldung, die mir zufällig in den Kram passt, über ein soziales Netzwerk zu veröffentlichen. Natürlich steckt bei seriösen Redaktionen auch noch viel Aufwand darin, dass sie auch selbstkritisch veröffentlichte Beiträge prüfen und im Zweifelsfall ihren Fehler eingestehen, indem sie eine Korrektur veröffentlichen. Das mag sich erstmal schräg anhören, aber überall, wo Menschen aktiv sind, passieren Fehler, und das kann natürlich auch bei den besten Redaktionen geschehen. Die besseren unter ihnen räumen diese Fehler im Nachgang allerdings auch ein. Und das ist gut so, weil man daraus schließen kann, dass die Menschen in den Redaktionen nicht komplett im Blindflug nur ihren eigenen Vorurteilen nachjagen.

Soziale Medien Kompetenz

Ich erinnere mich noch ziemlich genau an den 11. September 2001. Damals kam ich von der Arbeit nach Hause und es lief so ein 24/7 Berichterstattungsprogramm von den Ereignissen rund um das World Trade Center. Die halbe Nacht habe ich vor dem Fernseher verbracht, in der Hoffnung irgendeine neue Information zu den Hintergründen zu bekommen. Das Problem war, dass die Hintergründe sich im Eifer des Gefechts nicht so schnell ergeben haben, wie ich sie gerne konsumiert hätte. Und demzufolge habe ich die halbe Nacht damit verbracht, die immergleichen Informationen zu konsumieren. Vielleicht gab es mal nach 60 Minuten wieder etwas neues, das ich dann sofort aufgesogen habe. Das war aber meistens so wenig, dass ich gleich danach noch mehr Fragezeichen als vorher hatte.

Und ich glaube, genau damals fing ein Sensationswahn nach neuen Informationen zu aktuellen Geschehnissen an, der noch bis heute nachwirkt. Wann immer etwas Außergewöhnliches in der Welt passiert, schalten Sender auf ihr 24/7-Berichterstattungsprogramm um, bringen stundenlang immer wieder die gleichen Informationen, bis – vermute ich – ein Schwellwert an Zuschauern erreicht ist, bei dem sich dieses Programm nicht mehr lohnt. Also wenn die Zuschauer beispielsweise unter die 2 Millionenmarke springen, spult man lieber wieder das normale Programm ab, mit dem man auch nicht mehr Leute erreichen kann – inklusive der entsprechenden Werbeeinnahmen, die man dafür bekommt.

Mit dem Einzug der sozialen Medien hat sich dieses Problem allerdings weiter verstärkt. Die Zuschauer hatten jetzt Blut geleckt und wollten mehr, noch schneller, noch aktuellere Informationen. Und natürlich steht man gerne im Rampenlicht, wenn man es schafft, die eine kritische Information als erster weitergegeben zu haben. Das heißt wir haben hier gleich zwei positiv verstärkende Feedbackschleifen im Spiel. Auf der einen Seite, die Gier nach neuen Informationen. Auf der anderen Seite, die gefühlte Popularität die mit dem Teilen dieser neuen Informationen einhergeht. Beides zahlt auf das Ego der Person dahinter ein und natürlich fühlt sich das alles toll an – ist es aber nicht immer.

Das Problem ist, dass wir nie eine Ausbildung für den Umgang mit sozialen Medien bekommen haben und sich somit schnell Falschinformationen in Windes Eile verbreiten. Die Dynamik, die sich dahinter aufbaut, ist eine von Vorurteilen und vorschnellen Meinungen, ohne dass es dahinter entsprechende Fakten gäbe. Und natürlich wird das Problem durch unseriöse Medien, die Meldungen aus eigener Popularität heraus teilen – um höhere Klickraten und damit auch höhere Werbeeinnahmen zu bekommen – nur noch weiter potentiert. „Wenn das in der New York Times steht, dann wird das schon stimmen.“ kann man da leicht denken. Dem ist aber nicht immer so. Was uns fehlt, ist eine Kompetenz in der Bevölkerung, mit diesen neuen Plattformen wie Twitter und Facebook auch sinnhaftig umzugehen und an Tagen wie dem #breitscheidplatz wünsche ich mir sogar einen Führerschein für Plattformen wie Twitter und Facebook.

Was tun?

Irgendwann am 19. Dezember 2016 schrieb die Berliner Polizei, man solle keine Fotos und Videos vom #breitscheidplatz teilen. Relativ schnell verbreitete sich unter dem Twitter-Hashtag Fragezeichen in die Richtung, ob man denn dort die Öffentlichkeit zum Schweigen bringen wollte.

Nun, liebe Lügenfressen, es gibt einen viel einfacheren Grund, warum man von Unfallstellen wie einem Verkehrsunfall auf der Autobahn keine Aufnahmen teilen sollte: Schutz der Opfer und deren Angehöriger. Wenn Euch etwas zustößt und ihr blutüberströmt am Straßenrand liegt, möchte Eure Frau, Eure Eltern oder Eure Kinder das nicht von einem auf Twitter geteilten Video erfahren – und ich vermute, dass sie schon gar nicht sehen wollen, wie schlimm Ihr ausseht oder dass Euer Kopf dort komisch am Hals geknickt wurde. Das ist beispielsweise auch der Grund, warum Gesichter auf Kriegsbildern und Videos verschwommen sind, weil man sich in so einer Situation als Angehöriger einfach besseres vorstellen kann, als über einen derart anonymen Kanal zu erfahren, dass jemand, den man kennt, gerade gestorben ist. Ein weiterer einfacher Grund besteht natürlich auch darin, dass die Fotografen und Hobbyfilmer in der Regel die stattfindenden Rettungseinsätze massiv blockieren. Das ist mit einer Gründe, warum derartige Sensationsgier strafrechtlich verfolgbar ist.

Wie aber gehe ich jetzt mit derartigen Halbwahrheiten von unseren Lügenfressen um. Spätestens seit der US-Präsidentwahl wird in dem Rahmen immer von FakeNews gesprochen und nicht nur Politiker in Deutschland denken darüber nach, Plattformen wie Twitter und Facebook eine soziale Verantwortung in einem gesetzlichen Rahmen zukommen zu lassen. Früher wurden FakeNews einmal Propaganda genannt, weil sie genau das sind: gezielt falsche Einträge, um Leute zu verunsichern und somit von der eigenen Meinung zu überzeugen. An jenem #breitscheidplatz-Abend habe ich deswegen mit allen Lügenfressen-Kommentaren das getan, was jeder von uns tun kann, um Twitter und Facebook an ihre soziale Verantwortung zu erinnern: Ich habe Tweets von respektlosen und vorzeitig anklagenden Zeitgenossen gemeldet – also nicht noch mal weiter verteilt, sondern die Funktion, die Twitter an der Stelle anbietet, verwendet, um den Dienst auf das Problem aufmerksam zu machen. Was sie damit tun, um ihre Nutzer zu mehr Sozialer Medien Kompetenz zu bringen, überlasse ich der jeweiligen Plattform. Ich halte das allerdings mittlerweile leider für notwendig.

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